22.04. ‐ 27.04.2025
angst teaser

ANGST IM KINO – KINO DER ANGST

„Nix Angst. Angst essen Seele auf!”
Zitat aus Fassbinders gleichnamigem Film „Angst essen Seele auf” (1973)


Ein Text von Kenneth Hujer

Im Dunklen ist es unheimlich. Im Kino suchen wir die Dunkelheit auf. Licht wirft dort eine Welt auf die Leinwand, in der wir uns bisweilen gruseln, fürchten, ängstigen. Immerhin: Wir sind nicht allein, um uns herum sitzen andere Menschen, bekannte, mehrheitlich unbekannte. Wir wähnen uns in Sicherheit. Vielleicht trauen wir uns gerade deshalb, uns im Kino auf die Reise hin zu unseren Ängsten zu begeben. Dass wir im Kino überhaupt Angst haben können, beweist, dass wir Menschen soziale Wesen sind. „Im Kino gewesen. Geweint.“ notierte Kafka lakonisch in sein Tagebuch. Er hätte auch schreiben können: „Im Kino gewesen, Angst gehabt“. Wir fühlen im Kino mit den Leinwandhelden, die von uns getrennt sind und doch so nah. Wir können unser Schicksal nicht ganz von dem ihren trennen. Wie in keiner anderen Kunstform, ergreift, berührt und ängstigt uns ihr erzähltes Leben. Manchmal halten wir uns vor Angst gar die Augen zu.

„Uns packt diese Angst, weil die Leinwandhelden nicht verstehen, dass eigentlich sie es sind, die Angst haben müssten."

Neben der mitfühlenden Angst gibt es aber auch eine Angst, die gerade aus der Trennung von dem Geschehen auf der Leinwand herrührt. Uns packt diese Angst, weil die Leinwandhelden nicht verstehen, dass eigentlich sie es sind, die Angst haben müssten. Oder anders formuliert: Uns ergreift die Suspense, weil wir gegenüber den Protagonisten um einen Wissensvorsprung verfügen. Der „Master of Suspense“ ist Alfred Hitchcock. In seinem Film „Rear Window" beobachtet der Fotojournalist L. B. Jefferies – mit gebrochenem Bein auf einen Rollstuhl angewiesen – anfänglich aus Langeweile seine Nachbarschaft. Irgendwann meint er, einen Mörder entdeckt zu haben. Seine Freundin, gespielt von Grace Kelly, dringt schließlich in dessen Wohnung ein und in ebendiesem Moment kommt der mutmaßliche Mörder zurück nach Hause. Wir sehen es, gebannt in den Kinosessel, Jeffries sieht es, gebannt in den Rollstuhl, aber sie ahnt nichts und keiner kann sie warnen. Eben das meint „Suspense“ – Angst, die aus der Ohnmacht des Zuschauens entsteht.

Die menschlichen Ängste sind ein weites Feld. In der Geschichte des Kinos werden sie künstlerisch ebenso vielgestaltig porträtiert. Einmal mehr Alfred Hitchcock: Mit „Vertigo“ verfilmte er den Klassiker zur Höhenangst. Ex-Polizist John Ferguson verliebt sich in Madeleine Elster, kann jedoch ihren tödlichen Sturz von einem Turm nicht verhindern, weil er an Höhenangst leidet. Alle vorherigen Therapieversuche scheiterten. Erst eine Doppelgängerin lässt ihn wieder hoffen und lieben, bis er auch sie auf tragische Art und Weise verliert. In seinem Science-Fiction-Horror-Thriller „Tarantula“ aus dem Jahr 1955 – damals B-Movie, heute ein Gruselklassiker – lässt Regisseur Jack Arnold eine Giftspinne mutieren, die die Menschheit in Angst und Schrecken versetzt. Arnold beabsichtigte mit all seinen Filmen ein „Spiel mit der Angst“. Die Arachnophobie, die weitverbreitete Angst vor Spinnen, war nur eine der Ängste, mit denen er „spielte“. Eine andere weitverbreitete Angst ist die vor Enge, die Klaustrophobie, der sich ebenfalls viele Filme bedienen, zum Beispiel in steckengebliebenen Fahrstühlen. In „Panic Room“, dem David-Fincher-Klassiker von 2001, flüchtet Jodie Foster mit ihrer Tochter (Kristen Stewart) vor Einbrechern in einen geheimen, gut ausgestatteten Hochsicherheitsraum für besonders Ängstliche. Doch der „panic room“ der Luxusvilla wird zur unheimlichen Falle. Neben Panik existiert auch Paranoia, beispielsweise als Verfolgungswahn, wie in Hitchcocks Spionagefilmklassiker „The 39 Steps“. 

Wir können die Liste der Filmängste bzw. Angstfilme nahezu endlos fortsetzen: „Die Vögel“ (Ornithophobie, Angst vor Vögeln), „Contagion“ (Mysophobie, Angst vor Keimen), „Saw II“ (Trypanophobie, Angst vor Spritzen), „Oculus“ (Catoptrophobie, Angst vor Spiegeln), „Dead Alive“ (Hämophobie, Angst vor Blut), „Annabelle“ (Pediophobie, Angst vor Puppen), „Cujo“ (Kynophobie, Angst vor Hunden), „The Descent“ (Achluophobie, Angst vor Dunkelheit), „Rattles“ (Ophidiophobie, Angst vor Schlangen), „The Walk“ (Akrophobie, Angst vor Höhe), usw.

„Sich im Kino den eigenen Ängsten auszusetzen, kann als eine Art cineastische Verhaltenstherapie verstanden werden. Kürzer: Das Kino ist ein Trainingslager der Ängste." 

Das Kino hat mit dem Wissen, uns ängstigen zu können, eigene Genres ausgebildet: den Horrorfilm und den Thriller. Wir fürchten uns in vielen Filmen, die vorgenannten Genres aber erklären den Affekt der Angst zu ihrem eigentlichen Ziel und Zweck. Im Thriller erleben wir Angst, im Horrorfilm genießen wir die Angst, so lautet eine These von Georg Seeßlen. Sich im Kino den eigenen Ängsten auszusetzen, kann als eine Art cineastische Verhaltenstherapie verstanden werden. Kürzer: Das Kino ist ein Trainingslager der Ängste. Angst ist im Thriller nicht die Krankheit, schreibt Filmkritiker Seeßlen, sondern die Therapie. Wir stellen uns unseren Ängsten, nehmen Kontakt zu ihnen auf, spielen sie durch, erleben sie nahezu körperlich, um ihnen zukünftig im besten Fall besser gewappnet zu sein.
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DAS LICHTER FILMFEST STELLT IN SEINEM INTERNATIONALEN FILMPROGRAMM ETWA 20 POSITIONEN DES AKTUELLEN WELTKINOS ZUM THEMA ANGST ZUEINANDER IN BEZIEHUNG.

Neben der Angst im Kino gibt es auch eine Angst des Kinos (vor seiner Zukunft). Doch wird das Kino nur eine Zukunft haben, wenn die Menschen, die es betreiben, den Mut aufbringen, es neu und anders zu denken. Wohin kann sich das Kino entwickeln, welche architektonischen Formen kann es annehmen, was kann es beherbergen, wo und wie kann es städtebaulich eingebunden werden?

Im Rahmen der 2022 erschienenen Publikation „Das Andere Kino”, hat Lichter Filmkultur vielseitige Aufsätze versammelt, die sich der Zukunft des Kinos widmen. Seither sind auf den zurückliegenden Kongressen mehrere Panels veranstaltet worden, die sich mit Zukunftsfragen des Kinos beschäftigen – architektonischen, programmatischen sowie gesellschaftspolitischen Fragen.

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NACH DER ZUKUNFT DES KINOS SOLL AUCH AUF DEM 5. KONGRESS ZUKUNFT DEUTSCHER FILM GEFRAGT WERDEN – DIESMAL UNTER DEM TITEL „MUT MACHT KINO”.

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