22.04. ‐ 27.04.2025
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DIE FREIHEIT DES KINOS

Auszug aus dem LICHTER Konzept 2022 // Text von Kenneth Hujer

SEIT DER ERFINDUNG DES KINOS VOR ÜBER 100 JAHREN IST DIE FREIHEIT EINES SEINER ZENTRALEN MOTIVE.

Blickt man auf die Liste der Filmklassiker, ist das Motiv der Freiheit allgegenwärtig: In Germaine Dulacs „La souriante Madame Beudet” (1923) als eine Sehnsucht, um dem beengenden Alltagstrott der Ehe zu entkommen, in Charlie Chaplins „Modern Times” (1936) als Pendant zur repressiven Arbeitswelt oder in „Casablanca” (1942) als Grund, vor der Besatzung der deutschen Wehrmacht zu fliehen. Schon im Namen trägt sie Richard Attenboroughs Biopic „Cry Freedom” (1987), mit dem er dem Anti-Apartheids-Aktivisten Steve Biko ein filmisches Denkmal setzte. Die Science-Fiction-Trilogie „The Matrix” (1999-2003) verhandelt den Topos der Freiheit gar in seiner erkenntnistheoretischen Dimension.

DIE DYNAMIKEN DER FREIHEIT SIND ABER AUCH IN DER FILMPRODUKTION SELBST VIRULENT. IMMER WIEDER HABEN VERKRUSTETE STRUKTUREN UND BEENGENDE ERZÄHLFORMEN FREIHEITLICHE PHASEN DES AUFBRUCHS, DES EXPERIMENTS UND DADURCH NEUER PRODUKTIONSFORMEN GERADEZU PROVOZIERT. ZUMEIST HABEN SICH DIESE DANN AUCH INHALTLICH NIEDERGESCHLAGEN UND IN DEN FILMEN EINE AUF DIE GESELLSCHAFT ABZIELENDE KRITIK FORMULIERT. DARÜBER HINAUS IST DER FILM IMMER WIEDER EIN WICHTIGER KATALYSATOR POLITISCHER BEFREIUNGSBEWEGUNGEN GEWESEN.

Einer der großen cineastischen Aufbrüche ist zweifelsohne die französische Nouvelle Vague, die sich anfänglich gegen eine dem Film äußerliche Drehbuchproduktion wandte und forderte, die Filmstoffe aus den Logiken des Films selbst heraus zu entwickeln. Als ihr Begründungsfilm gilt François Truffauts Jugenddrama „Les Quatre Cents Coups” (1959), das mit seinem jugendlichen Helden, der in Widerstreit mit den ihn einschränkenden Instanzen aus Familie, Schule und Erziehungsheim gerät, gewissermaßen das Coming-of-Age-Genre vorwegnimmt und in der Schlussszene das offene Meer als Sinnbild ersehnter Freiheit inszeniert. In der Folgezeit wurden Truffauts Filme zunehmend experimenteller und brachen immer radikaler mit den Erzählkonventionen des Films. Sein Mitstreiter Jean-Luc Godard arbeitete vor allem mit neuen Schnitttechniken, Schrift-Parolen und dem Einsatz von Dokumentarmaterial und Musik gegen die Sehgewohnheiten des Kinopublikums an und überführte den Bruch mit den Konventionen auf eine gesellschaftskritische Ebene. Bereits 1960 bekam er mit seinem Film „Le petit soldat” (1960), der die Brutalität des französischen Algerienkrieges gegen die dortige Unabhängigkeitsbewegung thematisiert, Probleme mit der französischen Zensurbehörde, die den Film erst einmal verbot.

In den USA war es das New-Hollywood-Kino, das dem Film neue Freiheiten brachte und das gesellschaftliche Freiheitsversprechen zugleich hinterfragte. Einen der größten Erfolge feierte New Hollywood mit dem Road-Movie „Easy Rider”. Weil zunächst – wie so oft bei grundlegend neuen Ansätzen – keiner an den Film glaubte, produzierte ihn Regisseur Dennis Hopper unabhängig. Erst nach Fertigstellung wurde er von der Filmindustrie aufgekauft und sodann zum Kultfilm. „Easy Rider” war frei von allem, was das alte Hollywood ausmachte. Er erzählt von Menschen, die sich ein Leben unabhängig von der Gesellschaft aufbauen wollen, die Freiheit in Drogen, Rockmusik und mit selbstgebauten Motorrädern in der Provinz suchen. Doch wenngleich der Film die Freiheit beschwört, die Suche nach ihr zeigt er als eine ausweglose: Auch fernab der US-amerikanischen Metropolen ist die Freiheit des alten Pioniergeistes nicht zu mehr finden. Allen, die sie suchen, schlägt Aggression und Intoleranz entgegen; sie stoßen auf unbegrenzte Unmöglichkeiten. 

DER FILM IST EINE WUNDERBARE UND GEFÄHRLICHE WAFFE, WENN EIN FREIER GEIST IHN HANDHABT.
(
Luis Buñuel)

In Deutschland war es das Oberhausener Manifest, das sich 1962 gegen die künstlerische Einengung des bestehenden Kinos wandte und damit den Neuen Deutschen Film begründete. Darin heißt es: „Dieser neue Film braucht neue Freiheiten. Freiheit von den branchenüblichen Konventionen. Freiheit von der Beeinflussung durch kommerzielle Partner. Freiheit von der Bevormundung durch Interessengruppen. [...] Der alte Film ist tot. Wir glauben an den neuen.”

Ebenfalls mit einem Manifest (Dogma 95) begründeten die dänischen Regisseure Thomas Vinterberg und Lars von Trier Mitte der 1990er Jahre die Neuausrichtung des Films und legten damit die Dialektik der Freiheit offen: Sie schränkten die Filmproduktion durch zehn Regeln rigoros ein, um so wiederum neue Freiheiten des Filmschaffens zu erzwingen. Auch im Falle der beiden Manifeste wirkten deren künstlerische Auswirkungen zugleich gesellschaftspolitisch.

Noch radikaler war dies in Südamerika (u.a. Grupo Cine Liberación), in Teilen Afrikas und Asiens mit dem „Tercer Cine“ der Fall, das sich dezidiert politisch verstand und im Kontext verschiedener revolutionärer Befreiungsbewegungen verortete. Dessen Filme dienten allesamt der politischen Aufklärung und Agitation, weshalb sie nur in eigens dafür eingerichtete klandestinen Kinos gezeigt werden konnten. Zur fragen wäre, inwiefern die digitale Revolution mit ihren neuen Vertriebskanälen zumindest in Teilen ebenfalls in dieser Tradition stehen kann.

Lange versuchte der politische Film die Massen zu erreichen. Mittlerweile bewegen die Massen die Filmkameras ihrer Mobiltelefone selbst durch die Welt. Welche künstlerischen wie politischen Impulse der Freiheit können damit einhergehen?

DAS LICHTER FILMFEST STELLT IN SEINEM INTERNATIONALEN FILMPROGRAMM ETWA 20 POSITIONEN DES AKTUELLEN WELTKINOS ZUM THEMA FREIHEIT ZUEINANDER IN BEZIEHUNG, DIE MÖGLICHE ANTWORTEN GEBEN KÖNNEN.

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