16.04. ‐ 21.04.2024
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FREIHEIT –
EIN VIELSCHICHTIGES JAHRESTHEMA

Text von Kenneth Hujer und Janina Käppel

SEIT VIELEN JAHREN STEHT DAS LICHTER FILMFESTIVAL IM ZEICHEN EINES JAHRESTHEMAS, STETS PRÄGNANT IN EINEM WORT ZUSAMMENGEFASST. AN VIELE, DURCHAUS GROSSE THEMEN HABEN WIR UNS BEREITS HERANGEWAGT. EINES DER GRÖSSTEN HABEN WIR UNS BISHER ALLERDINGS AUFGESPART. VIELLEICHT BRAUCHTE ES DAFÜR UNSER 15. FESTIVALJUBILÄUM. MIT SICHERHEIT IST ES WIE IN ALLEN VORHERIGEN JAHREN AUCH DIE GEGENWART SELBST, DIE UNSER THEMA BESTIMMT: FÜR DIESES JAHR HEISST DAS „FREIHEIT“!

„Komm mit in meine freie Welt“ singen Tocotronic auf dem aktuellen Album „Nie wieder Krieg“. Leider erlebt der Albumtitel in seiner Dringlichkeit eine für uns in Europa kaum mehr vorstellbare Aktualität. Die täglichen Kriegsbilder aus der Ukraine sind für uns alle erschütternd. Ein Angriff auf ein Land, das für sich die Prinzipien der freien westlichen Welt wünscht, findet statt. Die Menschen in der Ukraine können nicht mehr frei handeln. Sie sind gezwungen zu kämpfen, um die Freiheit ihres Landes zu verteidigen, oder ihre Heimat zu verlassen und zu fliehen, um ihr Leben und das ihrer Kinder zu schützen.

Es läge da natürlich nahe, die Gegenseite als Gesamtes zu verurteilen. Doch vielen Menschen tut man damit Unrecht. Denn auch in Russland und Belarus finden massive Einschränkungen der Freiheitsrechte statt. Nicht alle in der Bevölkerung unterstützen den Angriffskrieg. Aber freie Wahlen, Meinungsfreiheit und Pressefreiheit gibt es dort nicht. Für ihre Teilnahme an friedlichen Demonstrationen gegen den Krieg werden Menschen verhaftet, die Presse darf nicht von „Krieg“ sprechen. Schon lange wird die Opposition an der Ausübung ihrer demokratischen Rechte gehindert und Demonstrationen unterdrückt; zu sehen zum Beispiel im Dokumentarfilm „Courage“ des belarussischen Regisseurs Aliaksei Paluyan, der an der Kunsthochschule Kassel studierte. Das bekannteste Beispiel ist hierzulande der russische Oppositionspolitiker Alexei Nawalny, der einen Giftanschlag überlebte und letztes Jahr zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt wurde.

Hier mag nun gesellschaftliche Einigkeit herrschen, wie der Freiheitsbegriff zu deuten ist. Bis vor kurzem war das jedoch nicht so einfach. Die Corona-Pandemie, samt politischer Maßnahmen zu ihrer Eindämmung, spaltete die westliche Gesellschaft und wurde für die Freiheit zu einer wirklichen Herausforderung. Manche interpretierten Covid-19 auch als eine „narzisstische Kränkung“ für die Freiheit. Lautstarke Stimmen pochten auf ihr persönliches Recht der Freiheit, andere wiederum sagten „Es gibt kein Ich ohne andere“, wie Tocotronic, die auf ihrem Album indirekt den egoistischen, unsolidarischen Freiheitsbegriff der Querdenker kritisieren. Denn die persönlichen Freiheitsrechte sind nur auf Grundlage einer sicheren politischen Gemeinschaft zu haben.

Nichts anderes meint der Wahlspruch zur Geburtsstunde unserer freiheitlichen Demokratie: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit – oder modern gesprochen: Freiheit, Gleichheit, Geschwisterlichkeit. Alle haben ein Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit, die Freiheit eines jeden muss sich in Solidarität mit der Freiheit aller anderen üben. Freedom is not egoism! So wäre etwas verkürzt der vielzitierte kategorische Imperativ Kants als Slogan zu formulieren. Und das hieß durch die Pandemie plötzlich: Einschränkung vieler individueller Freiheitsrechte inklusive des liebgewonnenen Kinobesuchs zum Schutz der durch Corona Gefährdeten.

Natürlich bleibt zu hinterfragen, ob Sicherheit und Freiheit bei allen Maßnahmen immer im richtigen Verhältnis zueinanderstanden. Einer solchen ständigen Abwägung zwischen Freiheit und Sicherheit haben sich autoritäre Regime wie das zur Weltmacht werdende China nicht zu stellen. Freiheit als Menschenrecht steht dort nicht im Mittelpunkt des politischen Handelns, im Gegenteil: Alle politischen Organisationen, Medien und die Zivilgesellschaft haben sich den Staatszielen unterzuordnen und werden streng reguliert. Mehr noch: Mit ihrem Social Credit System erhebt sich die chinesische Regierung zur allgegenwärtigen Kontrollinstanz. Es bedeutet faktisch das Ende aller Freiheit. Durch das Abriegeln von Millionenstädten, strikte Isolation und rigide Einreisesperren konnte der Alltag in China schnell wieder zurückkehren. Was aber bedeutet der Erfolg des entschlossen antifreiheitlichen Krisenmanagement Chinas für die Zukunft unserer Freiheit? „Ist die technische Autokratie der westlichen Demokratie überlegen?“ fragte bereits suggestiv eine große deutsche Tageszeitung.

Neben dem Krieg in der Ukraine und der Pandemie sind auch andere große Themen unserer Zeit wie die Klimakrise und die Entwicklung künstlicher Intelligenz unmittelbar mit Fragen der Freiheit verknüpft, stellen Freiheitsrechte ebenso in Frage. Sollte man angesichts der drohenden verheerenden Folgen der globale Erderwärmung weiterhin reisen und konsumieren dürfen so oft und gern man will, wenn man es sich denn leisten kann? Nicht wenige würden diese Frage mittlerweile verneinen. Aber die Forderungen zielen hierbei schon längst nicht mehr allein darauf, die Freiheit des Konsums oder die Reisefreiheit zu beschränken. Wenngleich die Geburtenrate nicht den alles entscheidenden Faktor bei den CO2-Emissionen darstellt: Manche denken bereits laut über eine staatliche Geburtenkontrolle nach. Auch die Möglichkeiten künstlicher Intelligenz legen uns eine starke Begrenzung menschlicher Handlungsfreiheit nahe – wohlgemerkt zu unserer eigenen Sicherheit. Eine Neuverfilmung von „Easy Rider“ mit selbstfahrenden Motorrädern – wollen wir das?

Der Begriff der Freiheit scheint allgemein positiv besetzt zu sein. Von allen Seiten des hiesigen politischen Spektrums wird er in Anschlag gebracht, auch von ganz rechts außen. Selbst der russische Machthaber nutzt ihn als Kriegslegitimation gegen die Ukraine, indem er vorgibt, die unterdrückte russischsprachige Bevölkerung zu befreien und das Land zu entnazifizieren. Auch der chinesische Staatsapparat hat im Jahr 2004 – 55 Jahre nach seiner Gründung – die Menschenrechte und damit die politischen Freiheiten von Meinungs-, Versammlungs- und Pressefreiheit in seine Verfassung aufgenommen. Dadurch gerät die Freiheit zu einem ziemlich diffusen Begriff. Wer ihn verwendet, genießt, wenn man so will, Narrenfreiheit.

Das diesjährige LICHTER Filmfestival nimmt sich zu seinem 15. Jubiläum die Freiheit, sein Jahresthema in vielen seiner Facetten und gegenwärtigen Fragestellungen zu beleuchten. Freiheit als Ideal, Freiheit als Versprechen, Freiheit als Wahn, Freiheit als Bedrohung, bedrohte und verlorene Freiheit, Freiheit als Unfreiheit – entlang dieser Motive soll der internationale LICHTER-Langfilmwettbewerb kuratiert und mit ihnen ein großes Diskursprogramm bespielt werden. Nicht zu vergessen ist in diesem Zusammenhang die Kunstfreiheit, die auch das LICHTER FILMFEST ganz unmittelbar betrifft. In vielen Ländern Europas greift ein reaktionärer Backlash um sich: Kultur- und Filmschaffende sehen sich in ihrer Arbeit bedroht, das Verhandeln bestimmter Themen wie das der sexuellen Selbstbestimmung ist plötzlich ein Grund, keine Förderungen mehr zu erhalten. Dies soll der Kongress Zukunft Europäischer Film als Teil des Diskursprogramms erörtern und zu einem erneuten Positionspapier führen. So verhilft das LICHTER Filmfestival hoffentlich zu einer Neuordnung der Freiheit als Sammelbegriff unterschiedlichster Freiheiten und stellt die entscheidenden Fragen: Wie frei wollen wir leben, wie frei können wir leben? Und haben wir zur Beantwortung überhaupt die Entscheidungsfreiheit?

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