DAS LICHTER JAHRESTHEMA 2025: ANGST
Angst vor und hinter der Angst
Ein Text von Kenneth Hujer
Es gibt nicht viele deutsche Wörter, die dem internationalen Sprachgebrauch geläufig sind. Eines, wenn nicht das Bekannteste ist „Angst“, genauer: German Angst. „Wie Hypochonder befürchten die Deutschen oft das Schlimmste – nur um dann festzustellen, dass die Wirklichkeit weniger schlimm war“, so der Historiker Frank Biess. Die Angst der Deutschen kommt allerdings nicht von ungefähr. Sie begründet sich auf den erlebten Katastrophen, argumentiert Biess in seinem Buch „Republik der Angst“. Seit einigen Jahren scheinen die Deutschen mit ihrer Angst in der Welt allerdings nicht mehr allein zu sein. Zur „German Angst“ gesellt sich eine „Global Angst“.
„Angst hat eine große Familie“
- Friedrich Nietzsche
Bereits 2010 formulierte der Philosoph Paul Virilio: „Die Angst ist Welt geworden“. Anders als früher, als die Angst ein Phänomen war, das an lokalisierte Ereignisse gebunden war, identifizierbar und zeitlich begrenzt, umklammere die Angst heute die „begrenzte, saturierte, geschrumpfte Welt selbst“. Virilio schreibt im Angesicht von Börsenkrisen, Terrorismus und Pandemien und sieht für die westlichen Demokratien die Gefahr, dass mit Angst zunehmend Politik gemacht werde. Die Corona-Pandemie war da noch nicht abzusehen, Trump als US-Präsident nur ein abwegiges Phantasma, und auch der Einmarsch russischer Truppen in die Ukraine erschien den meisten undenkbar. Heute sprechen nicht wenige von einem zweiten Kalten Krieg, manche befürchten einen möglichen dritten Weltkrieg. Der Klimawandel und seine drohenden Folgen tun ihr Übriges. Angst als Empfinden und Haltung durchzieht unsere Gegenwart. Kurz und knapp: Wir leben in einem Zeitalter der Angst.
Der dänische Philosoph Søren Kierkegaard entwickelte den Begriff der Angst in Abgrenzung zu dem der Furcht. Furcht bezieht sich für ihn immer auf ein konkretes Objekt; man fürchtet sich vor etwas. Die Angst hingegen ist für Kierkegaard objektlos und abstrakt. Der sich ängstigende Mensch weiß nicht, wovor er sich ängstigt. In der Psychologie wären dies diffuse, unspezifische Ängste. Aber Kierkegaards Unterscheidung erlaubte der Psychoanalyse auch zu unterscheiden zwischen realen und neurotischen Ängsten. Phobien wie die Arachnophobie, also die Angst vor Spinnen, richten sich zwar auf ein Objekt, aber mitnichten jede Spinne ist gefährlich. Die Angst legt vielmehr einen inneren Konflikt offen. Genauso verhält es sich bei der Soziophobie, der Klaustrophobie, der Agoraphobie, der Xenophobie und jeder anderen Phobie. Im Falle der gesellschaftlichen Angst scheinen sich äußere und innere Welt, reale und neurotische Angst, gegenseitig zu bedingen.
„Keine Angst für Niemand“
- Tocotronic
Menschen mit Angststörungen helfen sich gemeinhin mit Beruhigungsmethoden wie Atemübungen oder autogenem Training, werden pharmakologisch behandelt und/oder psychotherapeutisch begleitet. Die Verhaltenstherapie folgt der Losung „face your fear“, tiefenpsychologische Ansätze widmen sich den hinter den Ängsten vermuteten inneren Konflikten. Bei allem darf nicht übersehen werden: Angst war in der Geschichte des Menschen immer auch lebensrettend und empowernd. Sie warnt und hält davon ab, unverantwortliche Risiken einzugehen. Zugleich setzt die Angst Kräfte frei, sowohl zur Abwehr als auch zur Flucht. Allerdings sind die Mammuts ausgestorben, die Braunbären hierzulande ausgerottet. Die unmittelbaren Bedrohungen sind im Laufe der Zivilisation neuen Bedrohungen gewichen. Aber weglaufen hilft nicht bei Angst vor Atomkraft oder Arbeitslosigkeit.
„Mut ist genauso ansteckend wie Angst“
- Susan Sontag
Zu fragen ist: Wie können und sollten wir als Gesellschaft mit unserer Angst umgehen, damit sie zu keiner „chronischen Panik“ oder zu einer dauerhaften „pessimistischen Erwartungshaltung“ führt? Gibt es eine adäquate Gesellschafts-Therapie? Ist eine Welt ohne Angst möglich? Oder liegt in der Angst auch eine Chance? Für Kierkegaard war die Angst immerhin „der Schwindel der Freiheit“.
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