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NOT UND ZERSTREUUNG.
100 JAHRE FRANKFURTER SCHULE,
5 JAHRE FRANKFURTER POSITIONEN

Herausgegeben von: Gregor Maria Schubert, Johanna Süß und Kenneth Hujer

 
100 Jahre Frankfurter Schule, 5 Jahre Frankfurter Positionen – dieser Untertitel mag irritieren, vielleicht sogar vermessen erscheinen. Sie und Euch hat er hoffentlich erst einmal neugierig gemacht. Ohnehin verrät das kleine Jubiläum, dass es nicht ernsthaft um einen Vergleich gehen kann. Vielmehr fasst der Titel die inhaltliche Ausrichtung des 3. Kongresses Zukunft Deutscher Film zusammen, der in Frankfurt am Main vom 19. bis 21. April 2023 im Rahmen des 16. LICHTER Filmfests stattfinden wird – auf den die vorliegende Publikation vorbereiten und den sie begleiten möchte.

Mit den Frankfurter Positionen zur Zukunft des deutschen Films, einem Papier, das eine grundlegende Erneuerung des deutschen Filmsystems fordert, erzielte der erste Kongress Zukunft Deutscher Film im Rahmen des 11. Lichter Filmfests 2018 bundesweit Aufmerksamkeit. Seit langer Zeit und längst überfällig formulierten etwa 100 Expertinnen und Experten Vorschläge, wie der allseits bedauerte Reformstau im deutschen Film überwunden werden kann. Es folgten Debattenrunden bei den Filmfestivals in München, Hof, Saarbrücken und der Berlinale; zahlreiche Gruppen und Verbände schlossen sich zur Initiative Zukunft Kino + Film (IZK+F) zusammen.

 
Zugleich zeigte sich mit dem ersten Kongress: Filmpolitik ist zwar Ländersache, die Zukunft des Films muss aber auch über die Grenzen hinweg diskutiert werden, um sich auszutauschen und voneinander zu lernen. In vielen Ländern Europas sieht sich der Film und seine Förderung mit ähnlichen Problemen und Herausforderungen konfrontiert. Dennoch schlagen die einzelnen Staaten sehr unterschiedliche Wege ein – mit unterschiedlichem Erfolg.

Der 2. Kongress, der im Rahmen des 15. Lichter Filmfests im Mai 2022 stattfand, rückte deshalb Europa in den Fokus. In Kooperation mit der FERA, dem europäischen Regieverband, kamen Expertinnen und Experten aus 22 europäischen Ländern nach Frankfurt. Bei öffentlichen Vorträgen, Podiumsdiskussionen und in Closed-Sessions sprachen sie über Filmfördergesetze und Filmausbildung, Filmgremien und Filmdistribution, die Zukunft der Kinoräume und der Streaming-Angebote. Bei der großen Abschlussveranstaltung in der Paulskirche mit dem griechisch-französischen Star-Regisseur Costa-Gavras ging von Frankfurt schließlich ein starkes Bekenntnis zum europäischen Film aus.

 
Nun, wenn in diesem Jahr der 3. Kongress Zukunft Deutscher Film ausgerichtet wird, jährt sich die Gründung des Frankfurter Instituts für Sozialforschung zum 100. Mal. Es ist die Geburtsstunde einer Theorieschule, die später unter dem Namen „Frankfurter Schule" weltweite Bekanntheit erlangte und bis heute erheblichen Einfluss auf die Sozial- und Geisteswissenschaften ausübt. Der 3. Kongress Zukunft Deutscher Film möchte das 100-jährige Jubiläum der Frankfurter Schule zum Anlass nehmen, Fragen der Filmkultur auch aus der Perspektive der kritischen Theorie zu diskutieren. In Kooperation mit dem Frankfurter Institut für Sozialforschung (IfS) sind zahlreiche Veranstaltungen geplant, in denen die Filmkritik im Sinne der kritischen Theorie diskutiert und das Kino als sozialer Raum erforscht werden soll.

Theoretiker wie Max Horkheimer, Theodor W. Adorno, Erich Fromm, Leo Löwenthal und Walter Benjamin verband die Einsicht, die Bertolt Brecht in Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny knapp mit „etwas fehlt“ beschrieb. Ihre kritische Theorie bekennt sich zu einem utopischen Moment, zielt auf Veränderung, weil sie ahnt, dass die Welt eine andere, eine humanere sein könnte. Dabei handelt es sich keineswegs um den Versuch, der „falschen“ Welt nun einfach eine vermeintlich „richtige“ entgegenzusetzen. Vielmehr geht sie davon aus, dass der inneren Logik der bestehenden Gesellschaft selbst eine Dynamik innewohnt, die über sie hinausweist. Kritik wird also nicht von außen herangetragen, sondern aus ihren Gegenständen entwickelt. Wichtig ist dabei zu betonen, dass die Frankfurter Schule anders als der klassische Marxismus die Kultur nicht bloß als Überbau der ökonomischen Basis verstand, sondern die gesellschaftliche Eigendynamik der Kultur betonte und ihr eine erhebliche Bedeutung zusprach.

 
Jemand, der im Nahfeld der Frankfurter Schule ihre kritische Haltung wie kein anderer in die Welt des Films trug, ist der gebürtige Frankfurter Filmsoziologe und Geschichtsphilosoph Siegfried Kracauer. Kracauer war in der Zeit der Weimarer Republik Feuilletonist der Frankfurter Zeitung, bei der er zahlreiche Filmkritiken und Reflexionen über das Kino verfasste. Zudem war er Romancier, Essayist und Architekt. In gewisser Weise kommen all diese Fähigkeiten auch seinen beiden filmtheoretischen Hauptwerken zu Gute: From Caligari to Hitler und Theory of Film. Die Literaturwissenschaftlerin Inka Mülder-Bach nennt Siegfried Kracauer einen „Grenzgänger zwischen Theorie und Praxis“. 

 
Eben diesen Grenzgang, typisch für das Denken der Frankfurter Schule, hat auch der 3. Kongress Zukunft Deutscher Film zum Ziel, indem er Theorie und Praxis, das Rezipieren, Produzieren und Nachdenken über Filme zusammenbringt – im kritischen Blick zurück und in der produktiven Wendung nach vorn. Dabei hilft hoffentlich die vorliegende Materialsammlung – bestehend aus Aufsätzen, Gesprächen, Protokollen, Statements und Thesen, die vielfach dem vergangenen Kongress zu verdanken sind. Ihre vier Abschnitte – Filmproduktion, Filmförderung, Filmräume und Filmkritik – werden allesamt mit Auszügen ausgewählter Textpassagen Kracauers eingeleitet, die eine spannungsreiche Hintergrundfolie für alle folgenden Textformate bieten.

Wir wünschen Ihnen eine gute Lektüre.

Gregor Maria Schubert, Johanna Süß und Kenneth Hujer

Februar 2023

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