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17. April, Tag 1: Durch Europa

Kinobauten – Zwei Autorenfilmer: Albert Serra, Alexander Kluge – Der neue Autoritarismus

© Philipp Goldberg

Alle Wege nach Europa führen durchs Kino. Denn der Kongress Zukunft Deutscher Film, der in diesem Jahr zum vierten Mal stattfand und Europa zum Thema hatte, begann am Mittwoch, den 17. April, mit einem Panel zum Kino – als Gebäude und Teil des öffentlichen Raums. Das Kino ist ein Raum, ebenso wie Europa ein geographisch, kulturell und historisch verklammerter Raum ist, der am ersten Kongresstag auf vielfältige Weise durchmessen wurde. Es gibt noch eine weitere Parallele: Als diverse, uneinheitliche und mehrsprachige Kulturgemeinschaft bleibt Europa, ein gemeinsames Europa, nach wie vor ein Projekt. Und wozu sonst ginge man ins Kino, um etwas zu sehen, was projiziert wird?

Mit Christoph Hochhäusler moderierte dieses erste Panel mit dem Titel „Europa Bauen! – Zur Zukunft europäischer Kinobauten“ ein Filmemacher, der passenderweise selbst in seinen Anfängen ein kurzes Studium der Architektur absolvierte. Mit Dietmar Feistel und Hugo Herrera Pianno waren zwei Architekten mit Erfahrung im Kinobau anwesend. Feistel entwarf das Eye Filmmuseum in Amsterdam sowie das geplante Haus für Film und Medien in Stuttgart, Pianno das im Bau befindliche Cameraimage European Film Center in Torún, Polen. 

Was braucht ein Kinoraum im 21. Jahrhundert, im digitalen und Post-Kinozeitalter, in dem die sich die Bewegtbilder vom Saal emanzipiert und in der Welt verbreitet haben, einer Zeit, in der immer wieder – zuletzt beschleunigt durch die Covid-Pandemie – das große Kino-Sterben ausgerufen wird? Feistels Credo: „Eine gute Bar.“ Pianno ist einverstanden: Kinos müssen Räume für Begegnungen sein, Räume des fließenden, aber geleiteten Übergangs zwischen dem Realen und dem Virtuellen. Die „Begleitung“ der Besucher:innen von der Außenwelt ins Innere des Kinos (und in die imaginäre Welt jenseits der Leinwand) zeichnet Feistel anhand architektonischer Elemente des Eye Filmmuseum nach, das an ein Raumschiff erinnert. Es geht darum, die Leute beim Entführen in eine andere Welt zu einem „langsamen Reingleiten“ zu animieren, sie nicht einfach ins Kino „stolpern“ zu lassen.

Pianno bezeichnet sein Projekt in Torún als „surreal“ und „abstrakt“, tatsächlich erinnern die sonnenreflektierenden Glasfronten in der Power-Point-Präsentation an ein Traumbild, das im Hintergrund eines Parks aufscheint. Und doch braucht es mehr als ein interessantes Gebäude, um die Leute ins Kino zu locken. Mit Kinos, meint Pianno, ist es wie mit Restaurants: Das Essen muss gut sein, damit die Leute kommen. Filme brauchen gute Kinos, und Kinos gute Filme. Hochhäusler zieht einen schönen Vergleich zwischen Kinobauen und Filmemachen: Man muss Risiken eingehen, sich irren dürfen; der Versuch, das Publikum zu verführen, geht mit der Gefahr einher, es zu verlieren. Pianno ergänzt, dass Bauen immer auch eine „optimistische Spekulation“ sei. Was für den Entwurf eines Kinosaals ebenso gilt wie für den Entwurf eines Films.

© Philipp Goldberg

Mit Risiken und Spekulationen kennt sich Albert Serra hervorragend aus. Der Katalane ist eine der innovativsten, experimentellsten und provokantesten Figuren des Weltkinos sein Werk von jeher ein Streifzug durch die europäische Kulturgeschichte. Seine Filme handeln unter anderem von Don Quijote, den Heiligen Drei Königen, Casanova und Louis XIV. Serras Darstellung nach stellen diese Stoffe jedoch weniger Inhalte dar als „Bedingungen“, aus denen heraus seine Filme und seine Ideen überhaupt entstehen. Europäische Bedingungen, könnte man sagen, die sich in seinem letzten Film Pacifiction bis in die ehemaligen französischen Kolonien im Pazifik ausbreiten, entlang alter und neuer Machtbestrebungen der Alten Welt.

Das Gespräch mit Rüdiger Suchsland, angelegt als Masterclass, vermittelt spannende Einblicke in die Arbeitsweise Serras, von der dieser auf gewohnt eloquente, redselige und großzügige Art und Weise berichtet. Serra dreht mit drei digitalen Kameras, die „mehr sehen können als das menschliche Auge“; am Set kommuniziert er kaum mit den Schauspieler:innen. Der Regisseur ist nicht der, der kontrolliert, sondern Kontrolle aufgibt, während er sie auch den Schauspieler:innen entzieht. Auf diese Weise entstehen hunderte Stunden an Material, die erst in der Postproduktion langsam Form annehmen. Das Filmemachen wird zu einer demokratischen Utopie: Es gibt keine „Hauptfiguren“ in seinen Filmen, nur flache und eingeebnete Hierarchien zwischen einzelnen Persönlichkeiten und Elementen, die mit Bezug auf die Kamera gleichwertig sind, ohne für sich eine darüberhinausgehende „Wichtigkeit“ oder „Bedeutung“ zu besitzen. Jede:r, auch der Regisseur, bleibt zu einem zentralen, aber unzugänglichen „Wissen“, zu jedweden Erklärungen, Meinungen oder Absichten in einem äquidistanten Verhältnis; alle sind von der Macht „gleichermaßen entfernt“. Eine auf diese Weise filmisch hergestellte Demokratie mit vakantem Machtzentrum bedeutet, dass einzig die Unsicherheit regiert, ohne Botschaft. Vielfach unterstreicht Serra, dass er „nichts zu sagen“ habe in seinen Filmen, „dumm“ sei und seine Zeit damit verbringe, „keine intelligenten Meinungen über irgendetwas“ zu entwickeln. Mit Serra ist es Aufgabe des Kinos, Bilder zu schaffen, die geheimnisvoll sind, sich ein „inneres Mysterium“ bewahren.

Die Zukunft des europäischen Autor:innenkinos liegt für Serra in diesem Gang ins Unverständliche. Bleibt die von Suchsland gestellte Frage, in wieweit europäische Mythen heute noch interessant sind für die jungen Menschen, die sich zahlreich im Publikum eingefunden haben, oder nicht doch längst zu einer Museums-Sache für die „happy few“ geworden sind. Serra findet, dass man „Europa“ als ikonisches Konstrukt durchaus fortführen kann; dass es Respekt im Umgang mit dieser ikonischen Tradition braucht, aber gleichzeitig einen Ikonoklasmus, um die Tradition lebendig zu halten. Gleichzeitig sieht Serra die Kunst- und Ausdrucksfreiheit – weltweit, aber gerade in Deutschland – bedroht, nicht zuletzt im Lichte aktueller Debatten über Israel, Palästina und Antisemitismus: Die Selbstzensur droht überall. Kultur, fasst Suchsland zusammen, ist eben ein „battlefield“, eine Abwandlung der berühmten Kino-Definition, die Samuel Fuller in Godards Pierrot le fou aufstellt: „Cinema is a battlefield“. Womit gesagt sein kann, dass sich das Kino besonders dafür eignet, kulturelle Schlachtfelder zu vermessen.

Apropos Schlachtfeld: Serras aktuelles Projekt, ein Dokumentarfilm, handelt vom Stierkampf, wobei er sich weniger für das kontroverse Sujet interessiert als für die Art und Weise, es zu filmen, von außerhalb der Arena. Er sei selbst nicht Teil des Spektakels, sondern dokumentiere es „wie ein Kriegsreporter“, der ja auch nicht Teil des Krieges sei. „I report what I see“, sagt Serra, eine weitere Definition von Kino, die Samuel Fuller wohl unterschrieben hätte und die man von Abel Ferrara in seinem Dokumentarfilm Piazzo Vittorio so auch schon gehört hat. Es ist eine wichtige Definition, die es sich immer wieder lohnt, in Erinnerung zu rufen: Filme sind nicht dafür da, Themen oder Aussagen abzuarbeiten. Sie sind nicht dafür da, die Welt zu verbessern. Sie müssen die Welt nur zeigen, in ihrer Grausamkeit, ihrer Gewalt, ihrer Verrücktheit und Unverständlichkeit.

Europa, ein lebendiges Europa, ein ikonisches Europa, dessen Bilder immer wieder gestürmt und zertrümmert werden können, braucht also Lichtspielhäuser, und es braucht Filme. Soweit, so gut. Nur braucht es zum Filmemachen auch Geld. Was Europa auszeichnet, so Serra, seien die öffentlichen Mittel, die Filmemacher ausgeben dürfen und nicht zurückgeben müssen. Darin liegt der Unterschied zu den Vereinigten Staaten, wo die Streamer mehr und mehr das Ruder übernehmen. Das dritte Panel des Tages, „Europa vor den Wahlen“, fragte danach, welche Gesetzte und Regulationen auf europäischer Ebene bereits existieren und welche es braucht, um die Diversität und Freiheit europäischen Filmschaffens angesichts des zunehmenden Einflusses amerikanischer Großkonzerne wie Netflix, Amazon und Apple bewahren zu können. Gerade in einer Zeit, in der sich die Menschen in Euriopa mehr und mehr in ihre Bubbles zurückziehen, können Filme Menschen einander näherbringen. Doch diese Möglichkeit der transnationalen Verständigung stößt an ihre Grenzen. Ein Problem ist das Geoblocking beim Streamen, also die Anwendung des Territorialitätsprinzips bei der Auswertung audiovisueller Werke, die dazu führt, dass bestimmte Inhalte in manchen Ländern nicht verfügbar sind (es sei denn, man beschafft sie sich auf illegale Weise.) Das Resultat ist eine Stückelwirtschaft, ein Zerfall Europas in einzelne Märkte. Wäre hier nicht so etwas wie ein europäischer Kanal die Alternative, nach dem Vorbild von Netflix und Co., nur in öffentlicher Hand? Die Diskutant:innen sind skeptisch: Solange es keine passable wirtschaftliche Alternative zum Geoblocking gibt, kann dieses nicht über den Haufen geworfen werden. Weswegen die Alternative Geoblocking vs. amerikanische Streamer vorerst alternativlos bleibt.

Wozu es im Europa von heute ebenfalls keine Alternative gibt, ist der Kampf gegen identitäre, völkische, neofaschistische, rechtsautoritäre, nationalistische und post-nationalsozialistische Bewegungen, die überall auf dem Vormarsch sind. Das vierte Panel des Tages, „Ein Gespenst geht um in Europa“, widmet sich dem neuen Autoritarismus. Marcus Stiglegger machte mit einem erhellenden Vortrag über die Aneignung von (einst links konnotierten) popkulturellen Symbolen und Elementen durch die Neue Rechte den Anfang und fasst deren Agenda konzise zusammen. Einblicke in das Universum von Hollywoodfilmen wie Zack Snyders 300 werfen die Frage auf, inwieweit das Material selbst schon protofaschistisch ist oder erst von Rechten neu codiert wird. Nach diesem analytischen, einordnenden Einstieg wird es laut und konkret. Jan Bonny zeigt Ausschnitte aus seinem bisher unveröffentlichten, in Zusammenarbeit mit Alex Wissel entstandenen Filmprojekt HA HA M.K. B.H. Was ist schlimmer als verlieren?, ein von Schauspieler:innen performtes Reenactment neurechter Diskurse, Parolen und Verhaltensweisen, vor allem aber: neurechten Schreiens und Kreischens. Björn Höcke und seine Partei treffen hier auf die Enfants Terribles der deutschen Kunstszene der Achtzigerjahre. Rechtssein, das wird in diesen 20 Minuten überdeutlich, ist heute eine Frage der Lautstärke, die Bonny und Wissel sehr viel stärker hätten dimmen müssen, um diese Diskurse wirklich auseinanderzunehmen. Später diskutierten – sehr viel leiser – Stiglegger, Bonny und Wissel mit der filmversierten Kultur- und Literaturwissenschaftlerin Elisabeth Bronfen und dem Publizisten Roger Behrens, moderiert von Rüdiger Suchsland, darüber, ob sich die Popklultur, einer Prostituierten gleich, immer wieder gerne links wie rechts anbiedert (Suchsland), ob sie nicht vielmehr ein Zerrspiegel der Gegenwart ist, in der diese sich immer wieder neu zeigt (Bronfen) und wie genau das Politische und Ästhetische denn nun zusammenhängen. Was genau bedeutet es, wenn Höcke gerne „Ruhe und Versenkung“ bei Caspar David Friedrich sucht? Wieviel Ideologie steckt im Pathos? Und wie nah können einem noch Filme wie Fight Club sein, die einst als antikapitalistisch und links galten, mittlerweile jedoch von Rechten zur Grundierung ihrer Verschwörungsphantasmen verwendet werden? Fazit des Tages: Jedes Werk muss immer noch als einzelnes gesehen und analysiert werden, auch wenn das manchmal schwerfällt.

© Philipp Goldberg

Den Abschluss des ersten Kongresstages machte einer, der in seinem vielgestaltigen Werk Europa und seine Geschichte wie kein zweiter vermessen hat, mit der Geduld eines Pferdes, das einst für Napoleon Soldaten und Kriegszeug nach Moskau schleppte. Die Rede ist von Alexander Kluge, dem live per Zoom zugeschalteten Doyen der assoziativen Geschichtsschreibung, der in einer Reihe von neu entstandenen „Einminutenfilmen“, die ebenfalls eingespielt werden und in ihrer Länge (oder vielmehr Kürze) an Filme aus der Frühzeit des Kinos erinnern, seiner Faszination für die Figur von Napoleon Bonaparte nachgeht. Auf Texttafeln tauchen Schriftzüge auf, die Titel, oder, nach Kluges Art, Einstiege in Sätze sein könnten: „Der Berufssieger Napoleon“, „Napoleon und das Schicksal als Katze“ (oder „der Katze“, aber nageln Sie mich nicht darauf fest, ebenso wenig wie Kluge), „Moskau brennt“ oder „Episode aus dem Winterfeldzug 1812 in Russland“. Zwischen Napoleon und Kluge gibt es eine seltsame Analogie. Beide durchstreifen, auf ihre Art, Europa – Kluge in Gedanken, Napoleon in der Wirklichkeit. Beide „schreiben“ europäische Geschichte, jeder auf seine Weise: Napoleon, indem er sie prägt; Kluge, in dem er diese Prägungen kommentiert, wie ein Liveberichterstatter historischer Vorgänge. Doch während Napoleon auf seinen Feldzügen viele Leichen hinterließ, hinterlässt Kluge auf seinen intellektuellen Streifzügen nichts als interessante Ideen und Bilder, einige sogar KI-generiert.

Nach der Filmvorführung tritt Kluge via Zoom in ein lebhaftes Gespräch mit Elisabeth Bronfen ein. Bezaubernd, findet Kluge, über hunderte von Kilometern so miteinander sprechen zu können, durch einen leeren Raum hindurch. Der Raum, den Bronfen und Kluge gemeinsam durchqueren, ist weitschweifig. Es ist ein europäischer Raum, in Kluges Worten: ein „Europa der Genauigkeit, der Einzelheiten, der Besonderheiten“. Ein Europa, das in seiner Vielschichtigkeit von vielleicht keinem anderen Medium so gut durchschritten werden kann wie dem Film. Nur vom Film? So sicher ist das nicht. Irgendwann müsste ernsthaft darüber nachgedacht werden, Alexander Kluge als eigenes Medium zu verstehen.


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