18. April, Tag 2: In Europa
Wer erzählt, wer zahlt?, oder: Von Shakespeare zu Monika Grütters
Hatte Kluge eine Genauigkeit bei der Beschreibung des Kontinents angemahnt, stellte der Kongress an seinem zweiten Tag die Frage: Was genau ist Europa? Wer gehört dazu, wer nicht? Wie wird Europa erzählt? Was sich mit einer zweiten Frage verband: Wer soll für diese Erzählungen zahlen?
„Europa erzählen“ sowie „Europa sehen, fühlen, schaffen“, zwei Veranstaltungen, die vormittags in größerer Runde sowie im partizipativen Agora-Format stattfanden, machten deutlich, dass eine Genauigkeit in der Beschreibung Europas mit der Anerkennung jener einhergehen muss, die lange aus europäischen Filmen und der europäischen Filmindustrie ausgeschlossen waren. In der lebhaften und respektvoll geführten Debatte trafen unterschiedlichen Perspektiven, Standpunkte und Erfahrungshorizonte aufeinander: Seit Langem in Deutschland lebende und arbeitende Personen mit Fluchterfahrung und Migrationshintergrund mögen ebenso wie andere Teil der Filmszene, des Kongresses oder der Agora sein; wer jedoch keinen deutschen Pass und nur eine Aufenthaltsgenehmigung hat, kann sich dennoch nicht so frei und sicher bewegen wie ältere, „biodeutsche“ Personen mit Pass und Staatsbürgerschaft, was die gewünschte und wünschenswerte Gleichheit dann doch begrenzt.
Dennoch geraten die Dinge ins Fließen. Immer wieder wurde ein „Europa der Fluidität“ beschworen, ein Europa mit flüssigen Grenzen. Und doch verschieben sich diese Grenzen vielmehr, als dass sie einfach verschwinden. Europa mag irgendwann Bosnien miteinschließen und auch die Türkei. Aber was ist mit Nordafrika? So traf hier ein universalistisches Verständnis (alle können dazugehören) auf eine notwendige Aus- und Abgrenzung, durch die so etwas wie „Europa“ im Gegensatz zu seinem „Anderen“ erst denkbar wird. Allerdings könnte man auch darüber nachdenken, aufgrund der bis in die Gegenwart hineinragenden rassistischen Geschichte des Kontinents diesen einfach abzuschaffen, und damit das Konzept der Grenze gleich mit. Diesen Schritt geht hier niemand, und ich bin mir nicht sicher, ob ich ihn selbst gehen würde.
Welches Bild sollen die Filmschaffenden in ihren Werken nun von diesem flüssigen Europa zeichnen? Peter Schernhuber, Leiter der Abteilung Film im österreichischen Kulturministerium, spricht davon, dass in vielen Regionen Europas (wie der Südsteiermark in Österreich) Grenzüberschreitungen und Mehrsprachigkeit in großer und realer Unmittelbarkeit gegeben sind, während die deutsch-kurdische Regisseurin, Drehbuchautorin und Produzentin Ayşe Polat, die aktuell für ihren Film Im toten Winkel in mehreren Kategorien für den Deutschen Filmpreis nominiert ist, betont, dass es genügt, die Gesellschaft in den Filmen so divers abzubilden, wie sie nun einmal ist. Es ist die Unmittelbarkeit des Kinos und seiner Bilder, sein direkter Zugang zur Welt, der ihm eine so wichtige gesellschaftliche, demokratiefördernde Rolle verleiht, wenn es darum geht, eine reale Diversität real zu erfassen.
Das dürfte Prof. Dr. Monika Grütters, Bundestagsabgeordnete (CDU) und ehemalige Staatsministerin für Kultur und Medien, ähnlich sehen. Grütters war Teil des nächsten Panels von Tag 2, „Keine Demokratie ohne Kultur“, und hielt einen Impulsvortrag, in dem sie die Bedeutung der Kreativen, der Kultur und der Kunst für die Demokratie hervorhob. Frau Grütters wartete auf mit einem Bekenntnis zur Freiheit der Kunst und beeindruckenden Zahlen. Zum einen mit Bezug auf die Ausgaben der deutschen Kulturförderung, zum anderen mit Bezug auf die Anzahl der Besucher:innen (in Kinos, Theatern, Konzerten, Museen etc.) in Deutschland. Die Filmkunst liegt Grütters besonders am Herzen. Als Beispiel nennt sie mit Fuoccoammare von Gianfranco Rossi den Berlinale-Gewinner von 2016, der es schaffte, der abstrakten Debatte über Geflüchtete ein sinnliches, konkretes, menschliches Antlitz zu verleihen.
Nun wurde in der darauffolgenden Debatte mit Elisabeth Bronfen und dem Publizisten und Literaturwissenschaftler Johannes Franzen die Frage gestellt, wer diese Besucher:innen eigentlich sind. Formen sie eine Habermas’sche Öffentlichkeit zwischen Zivilgesellschaft und politischem System? Oder doch eher ein kulturrezipierendes und -kommentierendes „Publikum“? Franzen neigt der zweiten Option zu, wobei sich für ihn die Frage stellt, inwieweit wir über Filme sprechen und über sie streiten, durchaus in Form von Dissens, aber „ohne dass es zu sehr eskaliert“, was in Zeiten sehr schnell eskalierender Debatten ein sinnvoller (und deeskalierender) Gedanke ist.
Die andere Frage, die sich hier mit der Zeit stellte, war, ob denn die deutsche Filmindustrie – ebenso wie der schnell ins Spiel gebrachte deutsche Wissenschaftsbetrieb – nun ausreichend staatlich gefördert wird oder nicht. Grütters gab zu: Da gibt’s Handlungsbedarf (unter der neuen Regierung, versteht sich), während Elisabeth Bronfen zu bedenken gab, dass man bestimmte Dinge (wie Wissenschaft und Kunst) ja nicht nur des Geldes, sondern auch des Idealismus wegen macht. Es gäbe nun mal nur eine bestimmte Anzahl an Preisen, Geldern und Stipendien. Diesen Idealismus – „man muss schon für die Sache brennen“ – kann sich Bronfen, emeritierte Professorin an der Universität Zürich und Global Distinguished Professor an der New York University, natürlich leisten. Oder was genau ist hier gemeint? Dass, wer keinen Goldenen Bären oder einen Deutschen Buchpreis gewinnt, einen Führerschein machen sollte, um Taxi zu fahren? An dieser Stelle nimmt Franzen die Taxifahrer:innen dankenswerterweise in Schutz: Man sollte nicht auf sie herabblicken, zumal sich Statistiken zufolge gar nicht so viele erfolglose Akademiker- und Künstler:innen in ausgerechnet diesem, ihnen immer wieder zugeschriebenen Brotberuf tummeln. Bronfens Pointe: „Noch nicht einmal das können sie!“ (also Taxifahren).
Was durch diesen skurrilen, von viel Gelächter begleiteten Schlagabtausch wenigstens deutlich wurde, war die Verstrickung von Kunst und Geld; was dadurch verteidigt wurde, war die Freiheit der Kunst (oder der Diskussion auf dem Panel) von jeder Nützlichkeit. Das heißt: Kunst kann und darf schon nützlich sein – politisch, kulturell und künstlerisch –, aber sie muss es nicht, während ihre Nützlichkeit heute oft „neoliberal umcodiert“ (Franzen), aufs Kommerzielle reduziert wird. Dabei reicht ästhetischer Hedonismus vollkommen aus. Grütters erinnert an experimentelle Werke, die in der Vergangenheit mit wichtigen Auszeichnungen bedacht wurden – der Film Viktoria zum Beispiel, oder Kim de l’Horizons Blutbuch. Es ist dieser Hedonismus, den sich ein Staat leisten können muss. Oder gefördert werden sollte von privaten Mäzen:innen [eine Forderung, die auf dem späteren, dritten Panel des Tages einmal konkret formuliert wurde: Filmemacher:innen Europas, haltet euch an die Reichen, überredet sie, Euch zu finanzieren! Eine vernünftige Förderung, würde ich sagen. Ihr, die Filme machen wollt, wisst also, was ihr zu tun habt, aber überlegt euch dennoch vorsichtshalber die Sache mit dem Führerschein.] Als Shakespeare-Forscherin hat Bronfen nicht nur einen royalen Humor, sie kennt sich auch auf dem Gebiet des Mäzenat:innentums bestens aus. Sie selbst wäre, sagt sie, gerne Königin Elisabeth gewesen. Vielleicht wäre Grütters ja auch gerne Königin Elisabeth, und Franzen Shakespeare. Der Kunst sollten keine Grenzen gesetzt werden, ebenso wenig wie der Phantasie des Festival-Chronisten.
Die Künstler:innen, Intellektuellen, Schreibenden: Sie müssen und sollen, so Grütters, manchmal ein Stachel im Fleisch jener sein, über und für die sie schreiben. Auch wenn es unangenehm wird. Gleichzeitig: Sie bewegen sich in einer Gesellschaft, auf die sie angewiesen sind. Shakespeare mochte ein Genie sein; er musste dennoch, auch daran wird erinnert, dem Publikum gefallen, für das er schrieb. Übertragen aufs deutsche Hier und Jetzt, darin ist man sich einig, rechtfertigt das noch lange keine Subventionen für Till Schweiger, ohne damit sagen zu wollen, man möge ab sofort alles Angela Schanelec in den Rachen schmeißen. Das Problem des deutschen Films (oder ein Problem unter anderen) besteht nicht zuletzt in dem, was die Filmemacherin Jutta Brückner aus dem Publikum unter voller Zustimmung der Panelist:innen als „mittleren deutschen Realismus“ beschrieb, der – zwischen Schweiger und Schanelec, Kommerz und Kunst – etwa 95 % der deutschen Filmproduktion ausmacht und von Franzen mit dem „midcult“ in Verbindung gebracht wurde, dem Begriff des Literaturwissenschaftlers Moritz Baßler, der ein ästhetisches Mittelmaß in der gegenwärtigen Literaturproduktion beschreibt.
Ein „unbedingter Wille zum Mittelmaß“, den tags darauf Liana Jessen, ehemals Fernsehredakteurin des HR, den öffentlich-rechtlichen Sendern in Deutschland bei der Auswahl ihrer Filme und Stoffe attestierte, ist oft auch dann der kleinste gemeinsame Nenner, wenn es darum geht, sich über die ganz großen Konzepte zu verständigen. „Europa inszenieren“, das dritte Panel des Tages, das den Bogen zurückschlug zum am Morgen diskutierten „Erzählen“ und „Schaffen“ Europas, wagte den Versuch einer solchen Verständigung. Man hätte nur gerne mehr darüber erfahren, wie genau denn nun Europa wirklich (filmisch, poetisch, politisch) „inszeniert“ wird. Vielmehr wurden Beispiele für ein europäisches, transnationales Filmschaffen aufgezählt. Am Beispiel von Sonne von Kurdwin Ayub gab Peter Schernhuber ein Beispiel für einen ebenso österreichischen wie europäischen und globalen Film. Eileen Byrne, Mitinitiatorin des Manifestes „Angst essen Kino auf“, hat ihren letzten Film in halb Europa gedreht. Und im letzten Film von Robert Gwisdek werden zig Sprachen auf einmal gesprochen, ohne dass dies ein Problem darstellt. Anders Rune, Leiter der Stockholmer Filmschule, glaubt hingegen nicht recht an dieses „Europa“, dessen einzelne Kulturen er dafür als zu divers und unterschiedlich empfindet.
Ein Gespenst geht um in Europa, aber auch auf dem Kongress und in diesem Panel: das Gespenst des Geoblockings, das mehr ist als eine topographische Beschränkung bei der Distribution digitaler Inhalte. Es ist ebenso eine Metapher dafür, dass sich der Gedanke an die Einheit eines – wie auch immer diversen – Europas bei vielen nicht recht einstellen mag. In der anschließenden Diskussion erinnert Suchsland allerdings daran, dass es beim Kongress ja um die Zukunft Europa(s) gehe, nicht unbedingt um das Europa der Gegenwart. Von daher: Hoffnung. Morgen ist auch noch ein Tag.