19. April, Tag 3: Nach Europa
Die Paradoxien des Chronisten – ARTE und europäisches Fernsehen – Zukunft und Utopie
Die Arbeit des Chronisten (ich verzichte hier aufs Gendern, ich spreche von mir) hat ihre Tücken, Paradoxien und Aporien. Erstes Paradox: Der Chronist muss zuschauen/zuhören und schreiben, aber wie soll er beides gleichzeitig tun? Zuschauen und Schreiben stehen sich im Weg; auf diese Weise wird die Fertigstellung der Chronik eine Sache der Unmöglichkeit (es sei denn, sie verzögert sich.) Zweites Paradox: Die Aufgabe des Chronisten ist die Chronik, nicht die Kritik; nur: Wie soll er Dinge beschreiben, wenn er findet, dass man sie kritisieren sollte? Das dritte Paradox ist besonders hinterhältig. Sitzt er selbst auf einem Panel, wie soll er da noch seiner Aufgabe nachkommen, darüber zu berichten? Notizen machen? (Sich) zuhören und gleichzeitig protokollieren?
Ich möchte an dieser Stelle über meinen kurzen Vortrag vor dem „ARTE“-Panel am Freitagmittag („Europäisch Streamen oder Alles auf ARTE?“) kein weiteres Wort verlieren, außer, dass ich mich der Frage, wie ein möglicher europäischer Streaming-Service nach dem Vorbild von ARTE wohl aussehen könnte, über mein Steckenpferd (ein napoleonisches Steckenpferd, um Kluge aufzugreifen) angenähert habe, nämlich über die französische Kinokultur, genauer: über Jean-Luc Godard und den Filmkritiker Serge Daney; und dass ich in der nachfolgenden Diskussion mit Sabine Rollberg (ehemalige Redaktionsleiterin der ARTE-Redaktion beim WDR), Julio Talavera (ein unabhängiger Berater der Filmwirtschaft) und Martin Pieper (ehemaliger Redaktionsleiter bei ZDF/ARTE) mit meinem Laptop auf dem Schoß auf der Bühne saß und mitschrieb. Mit Rollberg und Pieper berichteten hier langjährige und erfahrene Redakteur:innen kenntnisreich und interessant über die Entstehung, Vergangenheit und Gegenwart des deutsch-französischen Senders.
„Laissez-vous déranger par ARTE“: Diese Werbung, die früher in Paris für ARTE zu sehen war, wäre in Deutschland nicht denkbar gewesen, da sich die Deutschen nicht gerne von Filmen oder Dokumentationen „stören“ ließen, oder sich zu schnell gestört fühlten, wenn die Sache nicht ganz dem Norm und Maß eines ordinären deutschen Fernsehbeitrages entsprach, über den das ARTE-Konzept mit seinen neu ins Leben gerufenen, auf dem Panel vielgelobten Themenabenden (der abendlangen Behandlung eines Themas in den unterschiedlichsten Formaten und aus den unterschiedlichsten Blickwinkeln) wesentlich hinausging. Das auf deutscher Seite zunächst eher ungeliebte, dann doch mitgetragene Projekt des binationalen Kulturkanals hat sich mit der Zeit als Band zwischen den Nationen erwiesen, auch wenn die unterschiedlichen Mentalitäten (und Filmkulturen) nie verschwunden sind. Deutschland ist eine Nation von Fernsehmenschen, Frankreich von Kinomenschen. ARTE, ein Sender, der sich in seinem (Film-)Programm stets um eine Vermittlung der Filmgeschichte bemüht hat, hat dem Fernsehen möglicherweise seine Würde zurückgegeben, wie hier einmal gesagt wurde, nicht aber dem Kino in Deutschland. Vielleicht muss man es diesbezüglich ja mit Mitterand halten, den Rollberg zitiert, und „der Zeit Zeit lassen“.
Mit Bezug auf Europa, ein gesamteuropäisches Programm in verschiedenen Sprachen, einen europäischen Sender: Was könnte hier von ARTE gelernt werden? Was wäre möglich, was nicht? Wie am ersten Tag (und wie Anders Rune am Tag zuvor) äußert Julia Talavera erneut Vorbehalte: Warum sollte das Publikum eines Landes etwas in einer anderen Sprache sehen als der eigenen? Beziehungsweise: Auf welche Sprache könnte man sich einigen? Das Englische? Sollte synchronisiert werden, wie es die Deutschen tun, oder eine Kultur der Untertitelung gepflegt werden (was unbedingt besser wäre)?
Aber ist nicht schon – daran erinnert Carlos Gerstenhauer (Redaktionsleitung Kinofilm beim BR und Koproduzent von Serras Pacifiction) – das Kino selbst eine visuelle Universal- und Weltsprache? Dieser Punkt wird oft vergessen während des Kongresses. Die vermeintlich nicht zu überwindende nationale Differenz zwischen einzelnen europäischen Ländern und Sprachen wird zu oft an Diskursen und Sprachen festgemacht, während zu selten auf die Möglichkeiten der Annäherung durchs Kino und seine Sprache hingewiesen wird. Glauben die Leute, die hier diskutieren, etwa nicht mehr genug an die Bilder? Und wenn ja, warum?
Den Abschluss des Kongresses bildete, was auch sonst, die Zukunft, und zwar jene „nach dem Zukunftsrat“, der im Januar seine Empfehlungen für eine Reform des öffentlich-rechtlichen Rundfunks vorlegte. Die teils hitzig geführte Diskussion widmete sich einem zentralen Faktor für die Zukunft des deutschen (und damit auch europäischen) Films, der schon während der morgendlichen Agora von Tag 2, aber auch in den letzten Kongress-Jahren immer wieder verhandelt wurde: die Rolle der deutschen Fernsehsender für das Kino, für die Freiheit der Filmschaffenden und damit für die von Monika Grütters tags zuvor beschworene Freiheit der Kunst und des Kinos.
Die Frage lautet natürlich, inwieweit diese Freiheit in den deutschen Förder- und Produktionsstrukturen heutzutage überhaupt noch möglich ist. Über diese Strukturen weiß Sabine Rollberg einiges zu sagen. Dass sich das deutsche Fernsehen weitestgehend verabschiedet hat aus grenzüberschreitenden Netzwerken, in denen sich Produzent:innen europaweit zusammenschließen, daran sind ihrer Ansicht nach Machtstrukturen innerhalb der öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalten schuld. Aus Redakteur:innen, die einstmals selbständig innovative Programme gestalten konnten, sind „angstgetriebene, hierarchiegesteuerte, verhuschte Wesen“ geworden, die einem nur leidtun können. Intendant:innen gebärden sich wie CEOs von Privatunternehmen, die ihren Mitarbeiter:innen, sei es durch Ignoranz der Fachgebiete, sei es aus Lust an der eigenen Autorität, die Gestaltungsmöglichkeiten nehmen. Fachredaktionen und Fachkenntnisse werden eingestampft. Die Stoffe sind da, die Erzählenden auch, nur das deutsche Fernsehen steht nicht parat, während die Finanzierung von Kinofilmen ohne Sender in Deutschland kaum möglich ist – ein strukturelles Problem, das schon im vergangenen Jahr von den Initiatorinnen des Aufrufs „Angst essen Kino auf“ adressiert wurde. Bleibt die Frage, ob die Institutionen noch reformierbar sind oder nicht. Rollberg ist skeptisch und vergleicht den WDR mit der SED kurz vor dem Mauerfall. Ob Grütters diese Aussage unterschrieben hätte, wage ich zu bezweifeln. Rollbergs Offenheit und Angriffslust sind in jedem Fall erfrischend.
Mutlos, technokratisch, Experimenten abgeneigt: Das Urteil über die Sender auf dem Kongress ist schonungslos. Ein Problem unter anderen: die starre Orientierung der Sender an Quoten, ohne welche, wie die redaktionserfahrene Liana Jessen mutmaßt, die Quoten sogar steigen würden. Wie soll schon von vornherein festgelegt und gemessen werden, was Erfolg haben wird? Wer konnte den Triumph von Toni Erdmann vorhersehen, oder, um es auf die Spitze zu treiben, den Siegeszug von Coca Cola? Die mittlerweile auch von den Öffentlichen betriebene Marktforschung soll den staatlichen Auftrag der Anstalten legitimieren und enthüllen, „was die Leute sehen wollen“. Und doch führt diese Strategie in die Sackgasse. Denn die Wiederholung des einmal Erfolgreichen garantiert keinen erneuten Erfolg, während in Wahrheit niemand sagen kann, was die Zuschauer:innen als nächstes „abholt“. Menschen wissen oft nicht, was sie wollen, bis sie es sehen. Einzige Möglichkeit: ausprobieren. Nicht gerade eine deutsche Tugend, wenn es um Filme geht.
Umgekehrt ließe sich daraus folgende Lehre ziehen: Unkenntniss, der Mangel an Wissen, muss anerkennt werden – wie bei einem Dreh von Albert Serra, um hier noch einmal auf Tag 1 zurückzublicken –, um gute (und potentiell erfolgreiche) Filme zu ermöglichen. Allerdings muss man sagen, dass der BR ja gerade Serras Pacifiction mitfinanziert hat. Und auch sonst zeichnen sich in den Debatten Bruchlinien ab, die oft mit dem aktuellen Arbeitsstatus jener zu tun haben, die sich zu Wort melden. Wer aus den Sendern ausgeschieden oder im Ruhestand ist, spricht freier und kritischer; wer noch aktiv für sie arbeitet, identifiziert sich stärker mit seinem Arbeitgeber, stimmt der Kritik eher begrenzt zu, versucht, sie zu relativieren; es werden Ausnahmen und Freiräume betont, die guten Leute in den guten Redaktionen; die Tatsache, dass nicht alle Sender und Redaktionen gleich seien. Man kann darin einen Selbstverteidigungsreflex des Systems sehen. Dennoch ist der Unterschied in den Arbeitserfahrungen der Leute ebenso real wie die Warnung vor der Verklärung der Vergangenheit vernünftig: Die Zeiten, in denen Freigeister und Exzentriker:innen in Schlüsselpositionen die Werke von Fassbinder und anderen förderten, waren auf ihre Weise wunderbar, müssen aber auch nicht unbedingt idealisiert oder zurückgewünscht werden, um bessere Bedingungen für die Gegenwart zu fordern. Einigkeit herrscht außerdem mit Hinblick auf die Betonung der generellen Wichtigkeit der Öffentlich-Rechtlichen, schon allein deswegen, weil die konservativen, rechts-autoritären und neoliberalen Kräfte des Landes sie gerne abschaffen oder zumindest unter ihre Kontrolle kriegen würden. Nur müssten diese Institutionen eben, und zwar dringend, reformiert werden.
Die Vergangenheit ist unzugänglich, die Gegenwart kompliziert, die Zukunft unvorhersehbar. Damit der Film in Deutschland und Europa Zukunft haben kann, braucht es also Mut zum Risiko. Immer wieder geisterte die Idee einer Utopie durch den Kongress: In der Freiheit von Albert Serras Filmen, in der originellen Gewitztheit von Kluges Einminütern, in der Aufforderung des Filmemachers Robert Gwisdek, sich das Geld zum Filmemachen nicht von Sendern, sondern reichen Mäzenat:innen zu beschaffen. Und doch ist die Utopie, wie jede Utopie, schwer zu fassen, die Arbeit an ihr kompliziert. Müsste man sie umreißen oder Wege hin zu ihr entwerfen, könnte man an folgenden sechs Punkten ansetzen.
Die ersten drei Punkte resümieren Kernaussagen oder -fragen, die sich aus den Diskussionen ergeben haben:
- Mit Bezug auf Europa, ein „gemeinsames“ Europa, eine europäische Filmkultur oder einen europäischen Streamingdienst muss man fragen: Was kann bei der Förderung, Produktion und Distribution an die Stelle alter nationaler Strukturen treten, also an die Stelle des Geoblockings?
- Mit Bezug auf Deutschland – national und im europäischen Kontext – muss gefragt werden: Wie können die dortigen nationalen Strukturen in Form der Öffentlich-Rechtlichen reformiert werden? Und: Wie kann eine Filmförderung jenseits der Sender aussehen, damit mehr Freiheit und Experiment möglich werden? (Durch Mäzenatentum?)
- Die Vielfalt der Perspektiven ist entscheidend nicht nur mit Bezug darauf, über wen erzählt wird, sondern auch mit Bezug darauf, wer erzählt. Diversität ist längst da. Die Aufgabe liegt nun in der Erweiterung von Partizipation, nicht nur in der Repräsentation der Vielen und Verschiedenen.
Die letzten drei Punkte beziehen sich auf das utopische Moment:
- Das Kino ist eine Kunst, „die keine Bildung voraussetzt“ (Gerstenhauer), weil sie mit Bildern und Gefühlen arbeitet. Es ist, in ihrer bildlichen Verfasstheit, eine Universalsprache, jenseits der Trennung in verschiedene gesprochene – nationale – Sprachen. Egal, ob man Untertitel verwendet oder die synchronisierte Fassung. [Nein, nicht ganz egal. Untertitel sind besser.] Von daher: Man sollte mehr den Bildern vertrauen, bevor man sich auf die Diskurse stürzt. Viele Diskussionen auf dem Kongress drehten sich (sicher bewusst) aber zu sehr um solche Diskurse, um allgemeine wirtschaftliche, politische, soziale und gesellschaftliche Fragestellungen, die bei aller Wichtigkeit oft die Frage nach dem Filmischen (oder sagen wir: dem Ästhetischen) überschatteten. Das Kino hat aber ohnehin schon einen Bezug zur Welt, zur Gesellschaft. Es genügt also, über die Filme zu sprechen, um von dort zur Gesellschaft zu kommen. In jedem Fall sollte auf zukünftigen Zukunfts-Kongressen mehr über Filme diskutiert werden. Man könnte sonst auf die Idee kommen, dass es in der Zukunft des (deutschen, europäischen) Films keine Filme mehr gibt.
- Die Utopie besteht in einem Europa, das durchs Erzählen (neu) geschaffen werden muss. Das Problem: Die Europäer:innen müssten dazu bessere Erzählerinnen werden, und das Erzählen ist gemeinhin ein „génie américain“, wie Serge Daney gesagt hat. Europa verwaltet in den Filmen seine großen Figuren, seine Kultur, seine Kunst, seine Geschichte, seine Archive; Amerika erzählt sich seine Mythen, seine Stoffe, seine (Anti-)Helden immer wieder neu, um überhaupt so etwas wie eine Geschichte zu haben. In dieser Hinsicht könnte Europa von Amerika lernen. Bitte „amerikanisch“ an dieser Stelle nicht mit Netflix verwechseln, seinem stupiden „Content“, seinem Algorithmus, seinen Stoffen und Bildern, die eine KI fabriziert haben könnte (oder schon fabriziert hat, oder bald fabrizieren wird)! Nicht vergessen: Wir reden hier von einer Utopie, nicht von einem Alptraum.
- Es sollte auf zukünftigen Kongressen mehr darum gehen, nicht nur einen – sehr wichtigen – Erfahrungsaustausch zu veranstalten, sondern aus den Diskussionen ein Ideenlaboratorium zu machen, wie Dinge konkret (oder auch nur in der Phantasie) verändert werden können. Die Zukunft kann gerne ein wenig mehr Zukunft vertragen, aus einer reinen Klage über die Gegenwart heraus kann sie nicht wachsen. Vergessen wir also die Utopien und ändern die Dinge. Ansonsten warten wir weiter – und die Zukunft kann lange dauern.